Sonntag, 17. April 2016

Ganztagshumbug zum Zweiten.

aus Tagesspiegel.de, 17. 4. 2016

Ganztags ist noch viel Luft nach oben
Neue Studie: Ganztagsschulen können die Motivation und das Selbstbild von Schülern verbessern. Aber auf die fachlichen Leistungen zeigen sich keine Effekte.

von Anja Kühne

Wie kommt es, dass Schülerinnen und Schüler, die in der Ganztagsschule an zusätzlichen Angeboten zum Lesen oder in den Naturwissenschaften teilgenommen haben, in anderthalb Jahre keine größeren Lernfortschritte machen als ihre Mitschüler, die nicht an solchen Angeboten teilnehmen – selbst wenn die Qualität dieser Angebote als hoch eingeschätzt wurde? Darüber rätseln die Forscherinnen und Forscher, die dieses Ergebnis mit ihrer „Studie zur Entwicklung der Ganztagsschule (StEG) zutage gefördert werden, selbst. Vier pädagogische Institute sind beteiligt, darunter das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) und das Deutsche Jugendinstitut (DJI).

Beim getesteten Leseverständnis könne sich niederschlagen, dass zusätzliche Leseangebote „signifikant“ stärker von Schülern wahrgenommen werden, die ohnehin starke Leser sind, so dass nur begrenzte Zuwächse zu erwarten sind. Vor allem gehen die Forscher aber davon aus, dass die mangelnden Leistungsfortschritte eben doch auf „Schwächen im didaktischen Konzept“ der Lehrkräfte zurückzuführen sind und/oder darauf, dass die Lehrkräfte ihre Angebote nicht gut genug mit dem Vormittagsunterricht verbinden. Und weil sich an den Angeboten am Nachmittag oft nur wenige Schüler beteiligten, könnten die Schulen wohl auch nur schwer „differenzierte Einzelangebote zur individuellen Förderung“ machen. Die von den Befragten als hochwertig eingestuften Nachmittagsangebote wären dann qualitativ doch noch deutlich zu verbessern.

"Schulen und Politik müssen verbindliche Standards aufstellen"

Die vom Bundesbildungsministerium geförderte StEG-Studie verfolgt die Entwicklung der Ganztagsschule in Deutschland seit dem Jahr 2005. Für die neuen Befunde wurden Schüler von 67 Grundschulen in zehn Bundesländern sowie Schüler von 66 Oberschulen getestet. Zusätzlich wurden die Schüler in Fragebögen und Interviews zu ihrer Wahrnehmung des Ganztagsangebots ihrer Schule befragt, ebenso ihre Lehrkräfte und Eltern. Auch besuchten die Forscher Nachmittagsangebote. 

„Schulen und Politik müssen eindeutige Qualitätsstandards aufstellen und verbindlich machen“, sagte Heinz Günter Holtappels vom Institut für Schülerentwicklungsforschung (IfS) bei der Präsentation der Ergebnisse am Donnerstag in Berlin. Bislang existierten für Ganztagsangebote weder Rahmencurricula noch Gestaltungsvorgaben. Jede Schule konzipiere Inhalte, Methoden und Gestaltungsmerkmale individuell. So gebe die Hälfte der Grundschulen es nicht einmal als ihr Ziel an, am Nachmittag zusätzliche fachliche Kompetenzen vermitteln zu wollen, sagte Holtappels. „Eine schlecht gemachte Ganztagsschule spricht aber nicht gegen das Konzept der Ganztagsschule.“

Noten spiegeln nicht nur die reine Leistung wieder, sagen die Forscher

Ein schon früher publizierter Befund der „StEG“-Studie, wonach Schüler im Schnitt nach mehreren Jahren an der Ganztagsschule etwas bessere Noten bekommen, ist mit dem aktuellen Befund nicht hinfällig, erklärten die Wissenschaftler. Noten würden eben nicht allein den bloßen fachlichen Leistungszuwachs abbilden, sondern „auch die Motivation der das Engagement der Schülerinnen und Schüler spiegeln“.

Die Qualität des Angebots entscheidet – und nicht die bloße Teilnahme der Schüler am Nachmittagsprogramm, das betonten die Forscher immer wieder. Selbst wenn fachliche Zuwächse am Nachmittag in den untersuchten Schulen noch nicht zu erkennen sind, können die Forscher aber mancherlei pädagogische Gewinne erkennen. „Die Kinder und Jugendlichen schätzen die Ganztagsangebote. Das trägt zu ihrem Schulerfolg bei“, sagte Christine Steiner vom Deutschen Jugendinstitut (DJI). So würden gerade Schüler mit Migrationshintergrund von einer kontinuierlichen Teilnahme an Angeboten, die auf das Sozialverhalten ausgerichtet sind, oder von Teamsportarten profitieren: Sie zeigten eine Entwicklung ihres „prosozialen Verhaltens“ – wenn die Qualität der von ihnen besuchten Angebote hoch war. Besonders Schüler mit Migrationshintergrund würden auch von hochwertigen Leseangeboten angeboten profitieren.

"Stabilisierung der schulischen Leistungen"

Schüler im Realschulbildungsgang und wiederum besonders solche mit Migrationshintergrund, die in er Oberschule an fachlichen Zusatzkursen teilnahmen, würden sich häufiger dafür entscheiden, das Abitur zu machen als Schüler, die nicht an Zusatzangeboten teilgenommen hatten. In den Hauptschulbildungsgängen führten die Angebote dagegen nicht höheren Bildungsaspirationen, sondern zur „Stabilisierung der schulischen Leistungen zum Erreichen des Schulabschlusses“.

Qualitätsmängel sehen die Forscher nicht nur in der didaktischen Umsetzung, sondern bereits in der Quantität der Nachmittagsangebote. Zwar sei der Ausbau der Ganztagsschulen in den vergangenen zehn Jahren weit vorangeschritten, stellen sie fest. Gemäß der amtlichen Statistik sei schon jede zweite Schule in Deutschland eine Ganztagsschule, und an diesen Schulen nehme im Schnitt die Hälfte der Schüler am Ganztagsbetrieb teil. Aber die Vorstellungen davon, was eine Ganztagsschule ausmacht, hätten sich in den Bundesländern weit auseinander entwickelt.

"Die Möglichkeiten werden nicht ausgeschöpft"

Dabei scheint das Label „Ganztagsschule“ auf viele Angebote kaum zu passen. So sind zehn Prozent der Ganztagsschulen an weniger als an drei Tagen nachmittags geöffnet. Nur jede zweite Schule hat die Nachmittagsphase konzeptionell mit dem Unterricht verbunden. Die Möglichkeiten von Ganztagsschulen würden nicht ausgeschöpft, erklären die Forscher: „Es wäre tendenziell denkbar, dass Ganztagsschulen irgendwann auf ihre zusätzlichen Betreuungszeiten und die Lösung schulformspezifischer Probleme reduziert werden, so dass pädagogisch motivierte Ziel aus dem Blick geraten." Für Eltern würde es dann immer schwieriger zu erkennen, ob die Schule ihre Anforderungen erfüllt. Die Kultusminister sollten ihre einstigen Ziele überdenken und die Ganztagsschule präziser von „Halbtagsschulen mit erweiterter Betreuungsfunktion“ abgrenzen.  


Nota. - Der heutige Beitrag von Frau Kühne wiederholt z. T. den von gestern, aber ich bringe ihn ganz, weil er so schön ist. (Meinen gestrigen Kommentar dürfen Sie ruhig auch noch einmal lesen.) Diese Untersuchung muss ja ein haarsträubendes Desaster gewesen sein! Die Experten finden selber kein einziges lobendes Wort über die Realität des Ganztagsschwachsinns; dabei fehlt es kein Bisschen am Willen zu Lüge und Schönfärberei: "Eine schlecht gemachte Ganztagsschule spricht aber nicht gegen das Konzept der Ganztagsschule." Doch wenn so viele Ganztagsschule "schlecht gemacht" werden, spricht das allerdings für die Annahme, dass die Idee selber schon schlecht war und man nichts Gutes daraus "machen" kann!

Die Hälfte der deutschen Schulen sind Ganztagsschulen. Schlimm. Aber nur die Hälfte der Schüler nimmt am "Nachmittagsangebot" teil. Macht immerhin noch ein Viertel. Wenn man die fragt, warum sie sich diesen Stress aufladen, werden sie den Forschern wohl antworten müssen, das täten sie gern; denn was Materiales können sie nicht anführen. Sollen sie villeicht sagen: "Damit Mama vollzeit arbeiten kann"?

Bleiben wir bei den Hälften: "Nur jede zweite Schule hat die Nachmittagsphase konzeptionell mit dem Unterricht verbunden." Folge: "Fachliche Zuwächse" seien an den Nachmittagen "noch nicht zu erkennen". Denn die Hälfte der Grundschulen gebe "es nicht einmal als ihr Ziel an, am Nachmittag zusätzliche fachliche Kompetenzen vermitteln zu wollen". Lassen Sie mich raten: Ist es vielleicht beidemal dieselbe Hälfte? Könnte es daran liegen, dass ihnen aus Erfahtung, gesundem Menschenverstand und Verständnis für die Kinder klargeworden ist, dass Kinderköpfe keine Gummischläuche sind, die man nach Belieben vollstopfen kann? Dass das Vollstopfen nicht einmal ein wünschenswertes pädagogisches Ziel wäre? Dass das vormittags Gelernte im Kopf tiefere Wurzeln fasst, wenn Körper und Seele sich am Nachmittag austoben können?

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Ach doch, Kinder "mit Migrationshintergrund" profitieren von der Ganztagsschule (da ist es ja, das Viertel!). Nicht fachlich-didaktisch, sondern sozialisatorisch. Mit andern Worten: Die Assinilation an die deutsche Kultur kommt voran. Oder auf gut Deutsch: Wenn man diese Kinder nachmittags von ihrem Migrationshintergrund fernhält und Deutsch reden lässt, fördert das die Integration! Und da man schlecht ein Gesetz machen kann, das Türkenkinder nachmittags zur Schule verdonnert, tut man so, als sei die Ganztagsschule ein "Angebot an alle"! Sie glauben nicht, dass die Bande so zynisch und verlogen ist? Tun Sie's, das erspart Ihnen spätere Ernüchterung.

Und zum Schluss: Realschüler, die am "Nachmittagsangebot" teilnehmen, entschließen sich hinterher eher dafür, doch noch das Abitur anzustreben. Oder vielleicht so: Wer die Empfehlung fürs Gymnasium verpasst hat und auf der Realschule gelandet ist, aber immernoch mit dem Abitur liebäugelt, nimmt am Nachmittagsunterricht wie an einem kostenlosen Förderkurs teil? Wahrlich, das Ergebnis ihrer Untersuchung muss fürchterlich gewesen sein, wenn sie nach so einem dünnen Hälmchen greifen.

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Und die Konsequennz? Haben die Kollegen besagter Experten gestern bei passender Gelegenheit noch von "Schule in erweiterter Verantwortung" geschwärmt, sind jetzt wieder eindeutige Qualitätsstandards, Rahmencurricula und Gestaltungsvorgaben gefragt - von oben verordnet. Wer es noch nicht glauben wollte, hat es hier schwarz auf weiß: Die Ganztagsideologie ist reaktionär bis ins Mark.
JE


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